In Kirgistan
In Kirgistan werden die Kälber in jungen Jahren an den Hälsen aneinandergebunden. Auf diese Weise können sie nicht davonrennen und werden von klein auf in die Gemeinschaft eingebettet und aneinander gewöhnt. Zwei davon, ein weißes, bereits etwas älteres Kalb, und ein jüngeres, braun-weiß Geschecktes, treffe ich am Seeufer. Sie wurden in die Freiheit des Hochplateaus hineingeboren, Teil einer Herde, welche die Ufer des Song-Küls bevölkert, an frische Milch und ihre Mutter gewöhnt. Schritt für Schritt wachsend, immer nahe an der Mutter.
Und auf einmal werden beide ihrer Mutter entrissen und mithilfe eines einfachen Stricks an ein Wesen gebunden, das ihnen fremd ist, mit dem sie nichts verbindet. Von nun an können sie nur gemeinsam vorwärts gehen, gemeinsam fressen, gemeinsam schlafen, gemeinsam scheißen, gemeinsam fliehen. Die beiden wirken wie Schwestern, die nichts miteinander anzufangen wissen. Das jüngere Kalb ist neugierig und ständig aktiv, das Ältere lässt sich mit leicht geschlossenen Augen mitreißen und erträgt sein Schicksal mit stoischer Gleichmut. Als Betrachterin leidet man mit beiden mit, die sie so gerne frei wären, man sieht ihnen an, wie anstrengend diese Bindung an etwas Lebendiges ist, das so anders ist als man selbst.
Doch auf einmal, wenn die ewigen Winde der Steppe sich kurz legen, hört man ihren warmen Atem, spürt man ihren Herzschlag herüberpulsieren - und fühlt, in welchem Einklang er geht. Beide sind einander im Kern bereits ähnlich geworden. Sie können gar nicht anders, als sich einander anzunähern. Sie können es nicht - und sie können es nicht wollen. Das liegt im Natur des Lebendigen. Des Herdenwesens.
Leben ist dafür gemacht, mit anderem Leben auszukommen. Sich zu vertragen. Sich zu ertragen. Herdenwesen können nicht anders überleben.
Vielleicht sind diese zwei ungleichen Schwestern genau deshalb richtig füreinander. „Die Lästigen ertragen“, wie es in der Bibel steht. Vielleicht ist das der Sinn alles Lebendigen. Kompromisse finden, bis sie keine Kompromisse mehr sind. Teil werden einer Gemeinschaft, in der man ein Atemzug eines großen Atems ist. Ein Herzschlag, der mit dem großen Takt des Lebens gemeinsam schlägt.
Wie die Menschen hier den Sommer unter dem Dach einer Jurte verbringen, von morgens bis abends mit Familie und Arbeit beschäftigt, so die Tiere. Stets gemeinsam. Gemeinschaft zählt mehr als Abgrenzung. Gemeinsam leben. Gemeinsam überleben.
Warum nur versucht jeder Mensch des Westens, sein eigenes Selbst auszubilden, sich über Abgrenzung zu definieren? Wo ist die Definition über Zugehörigkeit geblieben? Zugehörigkeit zur menschlichen Herde, zum Zirkel? Die Völker, die (noch) ursprünglich leben, bringen den Planet nicht zum Kippen. Doch auch sie sehen Einfachheit und Fortschritt, sehen die Vorteile des modernen Lebens, und verlassen mehr und mehr ihren Platz in der Gruppe, in der Ewigkeit des zirkulären Daseins.
Es ist wie mit dem Apfel im Paradies. Sobald man vom Fortschritt gekostet hat, sobald der Gedanke an Wohlstand, Gesundheit, Sicherheit, individuellen Erfolg und Bequemlichkeit gekeimt ist, gibt es kein Zurück. Von da an ist der Mensch verdammt. Er verrät seine eigene Mutter, seinen eigenen Gott, die Hand, die ihn füttert, indem er nach etwas strebt, zu dem er nicht bestimmt ist. Oder zu dem er bestimmt ist - wenn man annimmt, dass es immer schon das Schicksal des Menschen war, sich selbst zugrundezurichten.
Ist der Mensch dazu verurteilt, den Kreislauf zu verraten, und sich letzten Endes dadurch selbst auszulöschen? Das Schicksal jeder invasiven Spezies ist über kurz oder lang ihr eigener Untergang, da sie die Balance des Ökosystems zerstört, das sie trägt.
Das Faszinierende ist nur, dass der Mensch eigentlich, als einzige invasive Spezies, dazu in der Lage ist, war und sein wird, nicht-invasiv zu leben. Es ist sogar das finale Ziel jedes Individualismus, das eigene Ego zu überwinden und Transzendenz zu erleben. Doch wenn dies geschieht, ist es schon zu spät.
Die gesamte Geschichte der Menschheit ist eine Tragödie. Eine Parodie. Die Geschichte von Prometheus. Von Ödipus. Wir wollen unserem Schicksal als Herdenwesen entrinnen, und zerstören genau dadurch die Grundlage für jedes zukünftige Ich-Werden.
Vielleicht würden wir gut daran tun, als Kinder aneinander gebunden zu werden. Vielleicht könnten wir so unserem Schicksal entkommen. Aber machen wir uns nichts vor, die Kinder würden doch aufbegehren, und den Rest befreien, und die Anbinder jagen, ein neues Zeitalter ausrufen, und schon würde alles wieder von vorne beginnen.
Von dieser Perspektive aus betrachtet scheint alles sinnlos. Alles politische Bemühen scheint sinnlos. Die Gesellschaft der Schatten in Batman möchte die Gesellschaften zerstören, die auf dem Höhepunkt ihrer Dekadenz stehen und vernichtet werden müssen. Doch auch wenn die westliche Gesellschaft, der Globale Norden, ausgelöscht wird, so wird der Süden folgen. Die Menschheit als Ganzes ist verdammt. Über kurz oder lang.
Nur wer dem ins Auge sieht, in gnadenloser Ehrlichkeit, kann dem Schicksal entkommen. Und zumindest hier und heute, durch Tat und Wort, sein eigenes Schicksal überwinden. Wer es schafft, Gemeinschaft zu kreieren, präsent zu sein, nicht als Ego, sondern als Energie, als Bewusstsein, kreiert das Paradies auf Erden, in dem Adam und der Mensch im Allgemeinen vom Sündenfall erlöst ist. Zumindest für einen Moment bedeutet das: Himmel auf Erden.
Wenn ich euch betrachte, ihr zwei Ruhenden, fühle ich, dass es nichts Wichtigeres gibt, als hier und heute, unter anderen Menschen, zu fühlen, wie wunderschön Gemeinschaft ist. Der alten Dame aus der Yurte ein Kompliment zu machen. Heute Abend lange beisammen zu sitzen. Auch wenn ich an niemanden mit einem Strick gebunden bin, zu fühlen, dass ich in Wahrheit an euch alle gebunden bin.